Süße

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Keyword: Süße

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Definition: Das Wort süß geht, wie auch das Englische sweet auf das indogermanische suad für wohlschmeckend, süß, angenehm, lieblich zurück. Mit althochdeutsch suozi ist vermutlich der Geschmack süßer Fruchtsäfte bezeichnet worden und allgemein wird Süße mit dem Geschmack von Zucker und Honig verbunden.

Information: Süß ist eine der vier Grundkomponenten des Geschmackssinnes, sauer, salzig und bitter sind die anderen. Geschmacksempfindungen sind allerdings aus verschiedenen Reizen kombiniert, die im Mund und mit der Zunge verarbeitet werden, u. a. tritt zum Geschmack auch die Oberflächenbeschaffenheit, Temperatur und der Geruch einer Sache. Die Geschmacksknospen für süß und salzig liegen vorwiegend auf der Zungenspitze, und süß und salzig kann schon vom Säugling als angenehm und unangenehm unterschieden werden. Im Laufe der Entwicklung und Differenzierung der Sinnesorgane wird auch der Geschmackssinn immer differenzierter. Die Verkoppelung von süß mit angenehm ist eine so basale, lustvolle, sinnliche Erfahrung, dass sie den Geschmack vieler Menschen und ihr Ernährungsverhalten dominiert.

Honig, Manna (süße Absonderungen der Mannaschildläuse, Mannaflechte, Mannaesche, Mannaklee), süße Früchte und Pflanzen wie Zuckerrohr sind von den Menschen in der Natur vorgefunden worden. Vermutlich haben sie früh gelernt, sich damit Speisen angenehmer zu machen. Honig ist bis zum Mittelalter in Europa als Süßstoff verwendet, dann zunehmend durch Rohr- und Rübenzucker verdrängt worden. In Nordamerika ist ursprünglich von den Indianern und bis weit ins 19. Jh. auch von den Farmern mit Ahornsirup, dem Saft des Zuckerahornbaums gesüßt worden. Ahornsirup wird auch heute noch als Spezialität verwendet. Die moderne Industrie kann außerdem künstlich stark süßende und kalorienlose Süßstoffe erzeugen, die es ermöglichen, sich große Mengen künstlich gesüßter Getränke und Speisen einzuverleiben, ohne allzu viel Kohlehydrate zu sich zu nehmen. So kommen sie dem modernen Trend der Überfluss-, Lust- und Fitnessgesellschaft, "ohne Reue süß sündigen" zu können entgegen. Diese Süßstoffe verhalten sich allerdings offenbar paradox, sie sättigen nicht den Hunger auf Süßes, sondern heizen ihn oft eher an.

Vor der Erzeugung von Zucker als Massenware sind süße Früchte, Süßwaren oder Süßigkeiten besondere Kostbarkeiten und Kunstwerke gewesen - hergestellt im Süßes liebenden Orient und später in Europa von besonders ausgebildeten Zuckerbäckern und Konditoren. Honig und Zucker werden schon jahrhundertelang zur Herstellung von Süßwaren durch Konservieren von Früchten verwendet (Marmeladen und Fruchtmus, eingekochte Früchte, kandierte Früchte). Zu den ältesten Süßigkeiten gehören Lakritze und Ingwer aus dem Fernen Osten sowie orientalischer Nougat und Marzipan. Bei letzterem handelt es sich um eine Mandel-Zuckermasse aus dem Mittelmeerraum, die traditionell u. a. als Brot, Kartoffel und Schwein geformt, symbolische Bedeutung gewonnen und bis heute behalten hat. Die Trockenfrüchte und kandidierten Früchte des Mittelmeerraums wie Rosinen, Orangeat und Zitronat sind alte symbolträchtige Gewürze zur Herstellung von Süßwaren, Brot, Kuchen und anderen Gebäcken.

Süße Backwaren gehören nur in Form von kleinen Dauergebäckwaren zu den Süßigkeiten, nicht die weicheren, saftigeren und rasch zu verzehrenden Kuchen und süßen Brötchen und Gebäcke, die eher als sättigende Nahrungsmittel oder Genussmittel eingestuft werden. Ebenso spielen die unterschiedlichen Schokoladen eine Sonderrolle unter den Süßigkeiten. Zartschmelzende Eiscreme und Puddings, Parfaits, Mousses und die vielen anderen opulenten Desserts, die eine Mahlzeit krönen und abschließen können, werden eher als süße Speise oder Süßspeise verstanden, weniger als Süßigkeit.

Als Süßwaren oder Süßigkeiten werden alle Schleckereien, Näschereien, Leckereien bezeichnet, die überwiegend aus Zucker oder Honig bestehen und mit weiteren Zutaten - vor allem Fette und Nüsse, Milch und Eier, Schokolade und Kakao, Früchte, Aromen, Gewürze, Gelatine, moderne Lebensmittelzusatzstoffe - gemischt sind. Durch unterschiedliche Zubereitungsarten - neben den Zutaten ist unterschiedliches Erhitzen, Schmelzen und Härten entscheidend, denn Zucker weist abhängig vom Erhitzen verschiedene Kristallisationsformen auf - entstehen vielfältige Varianten: weiche, mürbe, cremige, klebrige, zähe, gummiartige, schaumige, schmelzende und leicht zu kauende Produkte oder harte, spröde, glasartig splitternde. Sie werden gelutscht, manchmal zerbissen, damit sich ihr Aroma im Mundraum entfaltet. Kurzfristig können sie den Mundraum sinnlich fühlbar und geschmacklich wahrnehmbar mit Süße, d. h. Freude, Lust, Wonne, ausfüllen. Die Lutsch- und Kaubewegungen können zur Spannungsabfuhr, zur Frustrationsverarbeitung, zur Ablenkung und zur Zentrierung beitragen. Bonbons (frz. bon - gut, also gut-gut, manchmal auch Gutsle), Frucht-, Sahne oder Kaubonbons werden viele dieser Süßigkeiten genannt. Der Genuss von Süßigkeiten ist nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen sehr beliebt. Süßigkeiten für Erwachsene sind manchmal zusätzlich mit Alkohol zubereitet. Bonbonnieren, also besonders gestaltete Schachteln und Kisten mit sortierten Pralinen oder unterschiedlichsten Bonbons sind seit ihrer Entstehung als Geschenk für geliebte Frauen und als Gastgeschenke für die Gastgeberin im Adel und reichen Bürgertum angesehen worden. Zahlreiche Liebesbriefe sind in solchen ehemaligen Bonbonnieren verwahrt worden.

Eine besonders Süßigkeit ist der Kaugummi. Kauen (Baumwurzeln, Harze, Blätter und Äste) zwischen den Mahlzeiten ist vermutlich schon in den frühen Kulturen der Jäger und Sammler ein weitverbreitetes Mittel gewesen, Hunger und andere Unlustempfindungen zu beruhigen, zu übergehen oder zu betäuben, manchmal auch, um Müdigkeit zu überwinden. Bekannt ist z. B. das Kauen der Colanuss, von Kautabak und von Kaugummi und das Kauen auf Zigaretten, Pfeifen, Fingernägeln, Stiften etc.) Die amerikanischen Siedler haben von den Indianern das Kauen eines Fichtenharzes übernommen, die spanischen Eroberer das Kauen von Chicle von den Majas. Dieses eher harte, durch Kauen weicher werdende Chicle, das Harz eines in den süd- und mittelamerikanischen Regenwäldern wachsenden Baums, ist im 19. Jh. nach Nordamerika eingeführt worden und - entsprechend indianischer Rezepte - mit Zucker, Vanillin, ätherischen Ölen weicher und schmackhafter gemacht worden. Die Mischung eines solchen chewing gums oder Kaugummis ist zum Weltexportschlager der USA geworden, ein typisch amerikanisches Lebensgefühl verkörpernd: leichte, unkomplizierte Fertig-Zwischenspeise, auch Langeweile, Gleichgültigkeit, Coolness gegenüber herkömmlichen Traditionen vermittelnd. Kaugummi kauende Teenager sind seit dem Erfolg des Rock'n Rolls für Generationen von Erziehern zum roten Tuch geworden. Und Kaugummi gehört zu den von der Gesellschaft für Deutsche Sprache aufgeführten 100 Wörtern, die das Lebensgefühl des 20. Jahrhunderts prägen. Auch die bunten bis grellbunten und in phantasiereichen Formen und Geschmäckern hergestellten Gummibonbons sind in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein Süßigkeitenschlager geworden, während die Lutscher oder Lollis, also Bonbons am Stäbchen und Drops eher in den früheren Jahrzehnten des Jahrhunderts die Kinderherzen erfreuten, aber auch bis heute, geschleckt werden.

Interpretation: Dass "Süßigkeiten" als Geschenke zu besonderen Gelegenheiten gestaltet und verschenkt manchmal in Herz- oder Blumenform, um eine besondere Wertschätzung oder Liebe auszudrücken, ist kollektiv eine frühe Lernerfahrung. Süße ist eine ganzheitliche Erfahrung von sinnlicher, emotionaler und narzisstischer Lust, die danach drängt, sich durch das Einverleiben süßer Speisen und Getränke zu wiederholen. Süßschnabel nennt man Menschen, die das gerne tun, manchmal liebevoll.

Neben dem süßen Geschmack gibt es auch den süßen Geruch: Blumen oder Parfums können süß duften, liebliche, frische oder schwere Süße verbreiten. Darüber hinaus wird der Begriff süß verwendet für angenehme Empfindungen und angenehme Emotionen in unterschiedlichen Bereichen: In seiner Ballade "Das Lied von der Glocke" lässt F. Schiller den Hausvater nach einer Brandkatastrophe sagen: "Ein süßer Trost ist ihm geblieben." Eine zart und lieblich klingende Melodie kann eine süße Melodie sein, Weihnachtsglocken klingen süß. Alles, was Freude und Entzücken hervorruft, kann als süß bezeichnet werden: z. B. ein Geschenk oder eine Aufmerksamkeit ("Das hast du süß gemacht"). Wir sprechen auch von einem süßen Gesicht, süßen Lächeln, süßen Kind oder sonstigem süßen Liebesobjekt, vgl. sweetheart, oder etwas burschikoser: na, mein Süßer.

Im religiösen Zusammenhang findet sich die Koppelung mit dem süßen Jesuskind. T. Williams nennt eines seiner Theaterstücke “Süßer Vogel Jugend” und beschreibt darin eine Art unbeschwertes Jugendglück. Liebe, Sexualität und Erotik werden häufig mit süßen Empfindungen verbunden, zahlreiche Beispiele sind in Liebesdichtungen zu finden, auch in der Werbung. Eine Liebesbeziehung oder eine Schwangerschaft sind ein süßes Geheimnis. Musevolles, süßes Nichtstun ersehnen sich viele. Auch in weiteren Wortschöpfungen betont süß das Angenehme: Wasser wird in Unterscheidung vom Salzwasser als Süßwasser bezeichnet, die ungiftige und als Leckerbissen genießbare Mandel ist die süße Mandel, die Amygdalin enthaltende die Bittermandel.

Übermäßiger Süßigkeitengenuss ist oft ein Hinweis auf entsprechende orale Fixierungen und ungeeignete und unbefriedigende Lösung eines weit über die Nahrungsaufnahme hinausgehenden tieferen Konfliktes. Er steht für ein Leben mit negativ aufgeladenem Mutterkomplex, für eine versüßte, im Grunde hexenhaft giftige Mütterlichkeit. Er bedeutet Hunger nach dem fehlenden Bios- und Erosprinzip, nach körperlicher Sinnlichkeit, nach emotional- und narzisstisch wohltuender Beziehung und nach grundlegender Geborgenheit und positiver Mütterlichkeit, die die echte süße Lebensnahrung fließen lässt. Das biblische Land, wo Milch und Honig fließen, ist das Versprechen Jahwes an Moses, um das jüdische Volk für den Auszug aus der ägyptischen Gefangenschaft zu ermutigen. Zugleich ist ein solches Land des Überflusses aber auch in Gefahr, ein Hexen- oder Knuspergefängnis, ein goldener Käfig oder ein Schlaraffenland zu werden, das Kreativität, Aktivität und Autonomie des Ich erlahmen lässt.

Gegen zu viel Süße empfinden viele Menschen eine Abneigung: Wenn etwas zu süßlich, honig- oder zuckersüß ist, ist es vielleicht übertrieben oder heuchlerisch freundlich, eine süße Miene kann Falschheit verbergen. Zu viel Süße kann bedeuten, dass etwas kitschig, unrealistisch oder verfälschend dargestellt, dass ihm die Schärfe oder Härte genommen ist. Süßholz raspeln (die Wurzeln des Süßholzstrauches werden zur Lakritzeherstellung verwendet) bedeutet, dass man jemandem schmeichelt oder Unsinn redet, um ihm zu gefallen und sich beliebt zu machen, auch Verliebte raspeln manchmal Süßholz. Etwas kann dann auch im übertragenen Sinne widerlich süß sein und wenn etwas einen süßen Beigeschmack hat, obwohl es eigentlich nicht süß ist, kann es giftig oder verdorben sein, wie erfrorene Kartoffeln beispielsweise. Süße weckt häufig das Bedürfnis nach Kontrast, weswegen bittersüße Nahrungsmittel ebenso wie bittersüße Empfindungen und Emotionen zwar ambivalent aber nicht nur unangenehm empfunden werden. Auch Rache kann so süß werden.

Eine 19jährige junge Frau ist tief verletzt, weil ein junger Mann, der in sie verliebt ist, sie als süß bezeichnet hat. Sie fühlt sich nicht gesehen und völlig missverstanden. Etwas Süßes ist für sie etwas Harmloses, etwas Billiges, Oberflächliches, Falsches, etwas, woran man eine kurze Freude und einen kurzen Genuss hat, etwas zum Abschlecken, etwas was dazu da ist, dem anderen Freude zu machen. Sie will nicht dazu dienen, wie eine Süßigkeit andere erfreuen. Von Fremden sei sie schon als Kind immer als süßes Mädchen erlebt worden. Daraus hat sie für sich den Schluss gezogen, dass niemand etwas von ihrem inneren Leid, das sie in der Kindheit erfahren hat, wissen will und dass sie alleine ist.

In der assoziierenden und amplifizierenden Umkreisung der komplexbesetzten Reaktion in der Therapie werden für die Pat. die negativen Konnotationen des Süßen in vielfachsten Verästelungen erlebbar. Für sie gibt es keine positiven Beiklänge zu süß, sie mag keine Süßigkeiten und Süßspeisen, weil sie eine Illusion sind. Für sie ist Bitterkeit, Not und Entbehrung die Grunderfahrung ihres Lebens, sie kennt keine angenehme Süße und, so sagt sie einmal: Sie möchte keine Vorstellung von einer solchen Süße, denn das könne nur bedeuten, etwas zu vermissen. Für diese Adoleszente ist Süße zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens Symbol für all das, wonach sie sich noch nicht zu sehnen wagt.

Literatur: Standard

Autor: Müller, Anette