Eingeweide

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Keyword: Eingeweide

Links: Ekel, Niere

Definition: Eingeweide (mhd. ingeweide, vermutlich verdeutlichend für mhd. geweide; mhd. weide und ahd. weida: Jagd, Fischfang, Nahrungserwerb; indogermanische Wurzel: auf Nahrungssuche gehen, auf die Jagd gehen, nach etwas trachten) ist die zusammenfassende Bezeichnung für die in den Körperhöhlen (Schädel, Thorax, Abdomen, Becken) befindlichen inneren Organe. Heute werden umgangssprachlich meist die Organe des Bauchraumes als Eingeweide bezeichnet. Bei geschlachteten Tieren spricht man von den Innereien.

Information: Das Wort Eingeweide mit ausweiden (innere Organe entfernen) und weidwund (in den Eingeweiden verletzt) stammt möglicherweise aus der Jägersprache bzw. von dem Brauch, den Jagdhunden die Innereien der toten Jagdbeute zum Fraß vorzuwerfen. Manchmal wird das Wort ausweiden - vergleichbar ausschlachten - auf Dinge bezogen, z. B. auf Autos. Weil sie so gering geschätzt wurden, wurden Eingeweide zum Hundefutter. In vielen Kulturen war und ist das Essen von Innereien tabu.

In magischen Ritualen früherer Zeiten und in den mantischen Künsten der Seher und Priester wurden entweder einzelne Organe von Opfertieren, etwa die Leber, oder auch die Eingeweide insgesamt zur Wahrsagerei genutzt. Man vermutete in ihnen die unterirdische, verborgene Wohnung eines göttlichen Geistes. Teilweise wurden die Eingeweide auch aufgefasst als Fortsetzung der äußerlich sichtbaren Geschlechtsorgane. Göttinnen, etwa Kali, auch Aphrodite in Gestalt der alten Frau töteten manchmal Männer durch Herausreißen der Eingeweide zusammen mit dem Penis, vergleichbar der Bienenkönigin, die den Drohnen die Genitalien mitsamt allen Eingeweiden heraus reißt und sie damit tötet.

Aus dem Körper hervorbrechende Eingeweide werden z.B. in Märtyrergeschichten und in Helden- und Kriegsgeschichten schaurig beschrieben; öfter auch, dass ein Verletzter die Eingeweide in Händen hält oder in den Körper zurück stopft, um weiter zu kämpfen. In modernen Horrorfilmen wird der Ekel und Schrecken beim Hervorbrechen von Eingeweiden wie überhaupt der verletzte Körper für Horroreffekte genutzt.

Interpretation: In Herz oder Leber, manchmal auch allgemein in den Eingeweiden wurden von den Menschen seit alters die Gefühle vermutet. Das Herz kann vor Freude hüpfen oder vor Kummer zerspringen, die Eingeweide können vor Schmerz zerreißen. Goethe dichtet in Wilhelm Meister: "Es schwindelt mir, es brennt mein Eingeweide. Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide!" Wenn Eingeweide also in Fantasien und Träumen als Symbol auftauchen, kann es um sehr existentielle Themen und Fragen gehen, die einen emotional berühren, bedrohen, einen schmerzen, im Innersten treffen.

Eingeweide liegen normalerweise geschützt im Dunkel unseres Körpers, bilden sein eigentlich verborgenes Innerstes. Der Anblick eines offenen Körpers mit den Eingeweiden kann verschiedenste Emotionen auslösen, u.a. Neugier, kalt sezierende Empfindungen, Angst, Ohnmacht, völlige Schutzlosigkeit, häufig Ekel. Sich mit solchen Bildern zu konfrontieren, kann ein Bedürfnis nach Grenzüberschreitung sein, z. B. bei Jugendlichen oder ein Bedürfnis danach, eines unfassbaren Traumas, eines Schreckens und Erschreckens Herr zu werden.

Radikale Bilder von Tod und Zerstückelung, Schlachten als Opferung, Essen von Eingeweiden etc. finden wir in vielen kulturellen Strömungen und Unterströmungen, häufig in Verbindung mit einem Prozess der Einverleibung von Fähigkeiten und Kraft oder mit einem Stirb- und Werde-Prozess.

Im alten Ägypten wurden vor der Mumifizierung die Eingeweide der Toten entfernt, in Kanopen gefüllt und als Grabbeigabe der Mumie mitgegeben. Für die Jenseitsreise wurden die Eingeweide in den Kanopen verschlossen, um vor Verwesung geschützt zu sein. Diese Kanopen, mit Tier- oder auch Götterköpfen geschmückt, standen u. a. unter dem Schutz der Horus-Söhne.

Der Expressionismus als Stilrichtung des frühen 20. Jh.s hat in seinen Texten, seiner Musik und seiner Malerei immer wieder das Erschrecken des modernen Menschen über die sinnlose Grausamkeit des Lebens und des Menschen thematisiert und alle bisherigen menschlichen Kategorien und Ideale angesichts des 1. Weltkriegs radikal in Frage gestellt. Kompensatorisch weisen solche Bilder auf die Bedeutsamkeit des lebendigen Lebens oder auf die Suche nach dem Wunder und dem Sinn des Lebens hinter Sterblichkeit und Zerfall.

Im 20. Jahrhundert hat kaum ein Dichter die Beschreibung der Eingeweide und der Körperhöhlen, aus denen sie hervortreten, so zum Thema gemacht wie Gottfried Benn während seiner frühen Zeit als Assistenzarzt und im 1. Weltkrieg. Seine Erfahrungen beim Sezieren von Leichen verarbeitet er in seinen frühen Gedichten, u.a. "Schöne Jugend" und "Kleine Aster". Die archaische Körperlichkeit und unpersönliche Natur des Menschen wird distanziert, sachlich, präzise beschrieben; Scheußliches, Grauenhaftes, Vergängliches, Erbärmliches, Hässliches, Sinnloses und Zerfall werden kalt und mitleidlos aufgezeigt und preisgegeben. Zynismus, Faszination am Morbiden, am Schrecken-, Grauen- und Ekelhaften treten hervor. Es geht um die Befriedigung ganz archaischer menschlicher Fantasien und Impulse, auch um das Ringen mit unserer tierhaften, körperlichen Natur, mit dem Zerfall und dem Tod unseres Körpers. Kompensatorisch betonen solche Darstellungen, wie zerbrechlich das lebendige Leben ist - und wie schutzbedürftig. In dieser Weise kann die moderne Faszination am Horrorfilm verstanden werden, ebenso entsprechende, vielleicht spontan entstehende Fantasiebilder oder Träume.

Weil sie zu nichts nutze waren, bekommt im Märchen (KHM 130) das Zweiäuglein, das aufgrund seines Gewöhnlichseins von seinen beiden Schwestern Einäuglein und Dreiäuglein sowie von der Mutter abgewertet und schlecht behandelt wird, die Eingeweide der von der Mutter getöteten hilfreichen Ziege. Auf Rat seiner Helferin, der weisen Frau, vergräbt Zweiäuglein diese in der Erde und am nächsten Tag wächst daraus ein wunderbarer Baum, voll mit prächtigen silbernen Blättern und goldenen Früchten. Wie oft im Märchen oder auch in der Alchemie erwächst hier aus dem Abgewerteten, dem gering Geachteten das Hilfreiche, die Lösung, das, was zur glücklichen Wendung führt.

Literatur: Standard

Autor: Müller, Anette