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'''Keyword:''' Märchen
'''Keyword:''' Rätsel


'''Links:''' [[Heldenfahrt]], [[Literatur]], [[Mythos]], [[Nachtmeerfahrt]]
'''Links:''' [[Denken]], [[Geheimnis]], [[Initiation]], [[Logos-Prinzip]], [[Mysterium]], [[Mystos-Prinzip]], [[Prüfung]]


'''Definition:''' Märchen (mittelhochdeutsch Maere = Kunde, Bericht, Nachricht) sind Erzählungen, die von wundersamen Begebenheiten berichten, in denen übernatürliche Kräfte und Gestalten in das Leben der Menschen eingreifen und meist am Ende die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden. Sie treten in allen Kulturkreisen auf und folgen oft dem Muster der Heldenfahrt und der Nachtmeerfahrt. Unterschieden vom mündlich überlieferten und anonymen Volksmärchen wird die Form des Kunstmärchens, dessen Autor bekannt ist. Im Vergleich zur Sage und Legende haben Märchen keinen real-historischen Hintergrund, sondern basieren auf allgemeinmenschlichen, archetypischen Mustern, sind weder zeitlich noch örtlich genau festgelegt.
'''Definition:''' Rätsel (spätmhd. raetsel, ratsel - raten) lösen heißt Unbekanntes, Geheimes ([[Geheimnis]]), eine gestellte Aufgabe zu entschlüsseln, zu erforschen und die richtige Lösung herauszufinden. Die Bedeutung des Verbes raten hat einen doppelten Sinn: jemanden einen Rat erteilen, eine Empfehlung geben, zum anderen nach Lösungen“ suchen, durch Überlegen, Kombinieren oder Schätzen das Richtige herausfinden. Rat bedeutet aber auch: Hilfe, Wink, Beistand, Schutz, Lehre.


'''Information:''' Märchen sind Urerzählungen, Urgeschichten der menschlichen Seele. Sie sind einfach, übersichtlich, klar, knapp dargestellt, so dass sie von Kindern und Erwachsenen überall auf der Welt unmittelbar verstanden werden. Das Besondere an den Märchen wie auch an den anderen "volkstümlichen" Textformen ist, dass sie nicht von einem konkreten Autor oder einer Autorität geschrieben wurden, sondern durch die mündliche Weitergabe immer wieder umgeformt wurden, dass also viele "Autoren" beteiligt waren. Auf diese Weise können sie allgemeingültig werden. Sie sind weniger kulturell überlagert als Mythen und andere Literatur. Märchen sind nicht an Ort, Zeit und Kultur gebunden, sie setzen kein Wissen voraus. Wir hören in den Märchen nichts über das Schicksal eines persönlichen Menschen mit "normalen" Gefühlen, Affekten und Gedanken, und doch sehen wir deutliche Parallelen zu unserem eigenen Leben, weil in ihnen allgemeinmenschliche Erfahrungen, typische Lebensphasen, Konflikte und Schwierigkeiten so dargestellt werden, dass wir unmittelbar spüren: "Das bin ich auch. Das ist auch ein Teil meiner Schwierigkeit mit mir und meinem Leben."
'''Information:''' Seit frühester Zeit gehört das Aufgeben und Lösen von Rätseln und Denkaufgaben in der Form des (spielerischen) Wettkampfes, als fester Bestandteil zur menschlichen Kultur, was sich in zahlreichen Mythen und Märchen widerspiegelt. In der vedischen Religion, der ältesten überlieferten Religion Indiens gehörte zum Ritus, dass sich die Opferpriester gegenseitig Rätsel stellten, die sich oft auf kosmische Erscheinungen bezogen. Im Alten Testament stellte die Königin von Saba stellte dem weisen König Salomon Rätselfragen, um seine Intelligenz auf die Probe zu stellen. Bekannt ist auch der Rätselkampf im Mittelalter beim Sängerwettstreit auf der Wartburg, an dem der Zauberer Klingsor und der Dichter Wolfram von Eschenbach beteiligt waren.


Märchen erscheinen uns in gewisser Weise näher, menschlicher, konkreter als mythische Erzählungen, die sich mit unsterblichen Helden und mit Göttern befassen, oder als die Dramen und Romane der Weltliteratur, die häufig ebenfalls mythische Themen aufgreifen. Manchmal werden Märchen als "herabgesunkene" Mythen aufgefasst, als einfachere, volkstümlichere, weltlichere und kindlichere, leichtere Form des Mythos. Die großen Mythen erzählen uns ja von der Entstehung der Welt und des Kosmos, von der Geburt der Götter und Menschen, von der Auseinandersetzung der Menschen mit den Göttern und mit den "Ur-Kräften" und "Ur-Themen" der (inneren und äußeren) Natur, von der Entwicklung der menschlichen Zivilisation und Kultur, erscheinen damit aber auch der Lebenserfahrung des durchschnittlichen Menschen ferner. Märchen ähneln in vielerlei Hinsicht unseren Träumen. In den Träumen und Märchen erleben wir, wie nahe uns magisches und symbolisches Leben, Denken und Erfassen ist.
'''Interpretation:''' Rätsel der Antike sind uns in großer Zahl überliefert. Bei Symposien wurden häufig Rätsel gestellt neben dem Vortrag von Liedern und Gedichten, dienten der Belehrung jedoch auch der Unterhaltung: Nach Aristoteles sind Rätsel, dadurch dass sie die Menschen zum Staunen bringen, die Vorstufe zum Philosophieren. Nur im weiteren Sinne fallen die berühmten Orakelsprüche von Delphi in den Bereich des Rätsels, in denen die Prophetin Pythia die Weissagungen des Gottes Apoll bekannt gab und dadurch manch Rätsel aufgab. Das bekannteste und symbolisch bedeutungsvollste Rätsel in der griech. Mythologie ist das Rätselder [[Sphinx]] ([[Ödipus]]).


Die Märchenhelden bewegen sich - ebenso wie wir manchmal in unseren Träumen - souverän zwischen ganz verschiedenen Welten, in verschiedenen Wirklichkeitsebenen. Sie sind in der inneren, seelischen Realität, der Welt der Fantasie, der Magie, des Zauberns und Wünschens zu Hause wie auch in der äußeren Realität. Sie bewältigen einen weiten Weg mit Siebenmeilenstiefeln und reden mit einem Tier wie wir mit unserem Nachbarn. Es begegnen ihnen Hexen und andere Zauberdinge, ohne dass sie sich auch nur einen Augenblick darüber wundern oder davon irritieren oder ängstigen lassen, und wir als Leser oder Hörer wundern uns genauso wenig, weil wir spüren, dass sich unser Leben tatsächlich in der Verwobenheit dieser unterschiedlichen Dimensionen abspielt.
In Märchen stellt das Motiv des Rätsellösens eine Art Wettstreit dar. Die gelösten Rätsel sind meist der Schlüssel zur Er-„Lösung“, durch den der Held in den Besitz der schwer zu erreichbaren Kostbarkeit gerät, die Liebe der Prinzessin gewinnt oder diese heiraten darf, meist verbunden mit dem Erlangen der Königswürde und des Königsreichs. Als sogen. Halsrätsel entscheidet die richtige Lösung des Rätsels sogar über Leben und Tod. In der Freierprobe als verbreitetem Märchenmotiv werden dem Helden von einer Prinzessin mehrere (meist drei) Rätselgestellt, manchmal auch im Gegenzug vom Helden der Prinzessin.


'''Interpretation:''' Manche Märchen bewegen uns mehr als andere, je nachdem, welche Lebensphase, welcher Konflikt, welcher Komplex oder Archetyp gerade in unserem persönlichen Leben konstelliert sind. Im Märchen Rotkäppchen z. B. werden starke Ängste und Konflikte thematisiert, die wir mit unserer "animalischen, triebhaften, gierigen" Triebnatur, sei es in Form von Gewalt und sexuellem Übergriff, die uns von außen begegnen, sei es in Form von ebensolchen Impulsen, Phantasien und Handlungen, die uns aus dem eigenen Inneren anfallen. Wir alle haben Angst, "vom rechten Weg" abzukommen, werden doch aber auch immer wieder verführt, auf dunklen Seitenpfaden zu wandern. Der Wolf in uns mit seinen großen gierigen Augen und dem gefräßigen Maul treibt uns zum Verbotenen und Tabuisierten, so daß wir uns manchmal von unseren Trieben, Sehnsüchten und Leidenschaften geradezu verschlungen fühlen.
Beispiele für das Motiv des Rätsellösens in Opern und Schauspielen: Pucchini „Turandot“, Orff „Die Kluge“, Wagner „Lohengrin“- „Nie sollst Du mich befragen“ (nämlich nach Namen und Herkunft). Wagner „Parzifal“ (Wunde des Amphortas), Shakespeare „Der Kaufmann von Venedig“. Anlass für vielfältige Deutungen hat auch das „Hexen-Einmaleins“ in Goethes Faust gegeben. Im 19. Jahrh. sind Frage- und Antwortspiele zur Belehrung und Unterhaltung und als unterschiedliche Gesellschaftsspiele (Kreuzwortsrätsel) in Mode gekommen, die im 20. Jahrh. mithilfe der Massenmedien zum Wissens-„Quiz“ wurden (Quiz von „Prüfung, Test“)


Im Lieblings- oder auch im Angst-Märchen unserer Kindheit lassen sich oft tiefe Beziehungen zu unserem Leben und unserer Identität, unseren Konflikten und Komplexen, unseren Stärken und Möglichkeiten wie unseren Schwächen und Ängsten, unseren Hoffnungen und Sehnsüchten auffinden. Im Rückblick auf unsere Leben können wir manchmal feststellen, daß wir lange Zeit ein Märchenthema gelebt haben, daß wir uns z. B. wie Aschenputtel, wie Dornröschen oder wie Hans im Glück verhielten. Je unmittelbarer und emotionaler uns ein Märchen berührt, um so tiefer ist noch sein Symbolgehalt, sein unbekannter, erneuernder, transzendierender Aspekt. Häufig erinnern wir uns auch scheinbar "falsch" an Märchen, wir haben sie für uns umgeschrieben. Vielleicht zeigt uns die "Verfälschung" unsere Lebensthematik und unsere Art der Bewältigung, sie zeigt uns aber auch die uns eigenen kreative Gestaltungsfähigkeit und unsere Lösungsversuche. Auf jeden Fall kann es sehr lohnend sein, sich zuerst das eigene, vielleicht rudimentär erinnerte, vielleicht umgeschriebene Märchen zu erzählen und aufzuschreiben, dann erst das Märchen nachzulesen. Daraus kann sich eine sehr spannende und dynamische Arbeit mit dem "Original"- Märchen und den "persönlichen", der eigenen seelischen Struktur, den eigenen Konflikten und Komplexen und den bewußten und unbewußten Wünschen und Vorstellungen entsprechenden Märchen-Varianten ergeben. In einem weiteren Schritt können wir uns außerdem noch andere Varianten des Motivs in Märchen, in Literatur, Filmen etc. vergegenwärtigen, um uns auf diese Weise dem ganz individuell-persönlichen und besonderen Gehalt des Märchens oder -motivs wie auch dem allgemein- menschlichen und prospektiven Sinn anzunähern. Die nur individuell-persönliche Erinnerung und Deutung kann reduzierend auch in Enge und Ausweglosigkeit zurückführen und alte Positionen, das schon Bekannte bestätigen: "Ich bin halt ein Aschenputtel, das auf den Prinzen wartet". Wenn wir ein Märchen auf diese Weise deuten und festlegen, geht es für uns verloren, es verliert seinen Zauber und das Wunderbare. Demgegenüber kann die Anreicherung des Motivs das Neue, das Hoffnungsvolle, das Richtunggebende, das Finale und Transzendente erschließen. Über die mehr verbale und intellektuelle Erweiterung eines für uns wichtigen Märchens hinaus, können wir auch noch andere Wege beschreiten, z. B. das Märchenmalen, das Um- und Weitererzählen oder -spielen des Märchens.
Rätsel fordern unsere Orientierungs-Funktionen, unsere Kombinationsgabe, unser symbolisches Verständnis und unsere Lebenserfahrung heraus. Über die reine Wissenabfrage hinaus ist es oft ein bewusstes Verwirrspiel, dessen Sprache mit Bedeutungen, mit Logik spielt und eine andere, häufig polare Sichtweise ermöglicht. ([[Trickster]], Narr, Clown)
 
Die tiefste Ebene des Rätselratens findet sich in der Frage des Menschen nach sich selbst und dem Sinn seiner Existenz ([[Sphinx]]). Hier kann das Rätselraten als Aufgabe der Individuation verstanden werden, der Entwicklung und Differenzierung des Bewusstseins aus dem Unbewussten, der Verwirklichung seines individuellen Schicksals und dem Prozess der Selbstfindung. Das Rätsel steht für das Geheimnis der Schöpfung und aller existentiellen Fragen des Lebens und des Todes, der Beziehung zwischen Frau und Mann ([[Eros-Prinzip]]) und der Kreativität.


'''Literatur:''' Standard
'''Literatur:''' Standard


'''Autor:''' Müller, Anette
'''Autor:''' Kuptz-Klimpel, Annette

Version vom 10. Dezember 2011, 14:41 Uhr

Keyword: Rätsel

Links: Denken, Geheimnis, Initiation, Logos-Prinzip, Mysterium, Mystos-Prinzip, Prüfung

Definition: Rätsel (spätmhd. raetsel, ratsel - raten) lösen heißt Unbekanntes, Geheimes (Geheimnis), eine gestellte Aufgabe zu entschlüsseln, zu erforschen und die richtige Lösung herauszufinden. Die Bedeutung des Verbes raten hat einen doppelten Sinn: jemanden einen Rat erteilen, eine Empfehlung geben, zum anderen nach Lösungen“ suchen, durch Überlegen, Kombinieren oder Schätzen das Richtige herausfinden. Rat bedeutet aber auch: Hilfe, Wink, Beistand, Schutz, Lehre.

Information: Seit frühester Zeit gehört das Aufgeben und Lösen von Rätseln und Denkaufgaben in der Form des (spielerischen) Wettkampfes, als fester Bestandteil zur menschlichen Kultur, was sich in zahlreichen Mythen und Märchen widerspiegelt. In der vedischen Religion, der ältesten überlieferten Religion Indiens gehörte zum Ritus, dass sich die Opferpriester gegenseitig Rätsel stellten, die sich oft auf kosmische Erscheinungen bezogen. Im Alten Testament stellte die Königin von Saba stellte dem weisen König Salomon Rätselfragen, um seine Intelligenz auf die Probe zu stellen. Bekannt ist auch der Rätselkampf im Mittelalter beim Sängerwettstreit auf der Wartburg, an dem der Zauberer Klingsor und der Dichter Wolfram von Eschenbach beteiligt waren.

Interpretation: Rätsel der Antike sind uns in großer Zahl überliefert. Bei Symposien wurden häufig Rätsel gestellt neben dem Vortrag von Liedern und Gedichten, dienten der Belehrung jedoch auch der Unterhaltung: Nach Aristoteles sind Rätsel, dadurch dass sie die Menschen zum Staunen bringen, die Vorstufe zum Philosophieren. Nur im weiteren Sinne fallen die berühmten Orakelsprüche von Delphi in den Bereich des Rätsels, in denen die Prophetin Pythia die Weissagungen des Gottes Apoll bekannt gab und dadurch manch Rätsel aufgab. Das bekannteste und symbolisch bedeutungsvollste Rätsel in der griech. Mythologie ist das Rätselder Sphinx (Ödipus).

In Märchen stellt das Motiv des Rätsellösens eine Art Wettstreit dar. Die gelösten Rätsel sind meist der Schlüssel zur Er-„Lösung“, durch den der Held in den Besitz der schwer zu erreichbaren Kostbarkeit gerät, die Liebe der Prinzessin gewinnt oder diese heiraten darf, meist verbunden mit dem Erlangen der Königswürde und des Königsreichs. Als sogen. Halsrätsel entscheidet die richtige Lösung des Rätsels sogar über Leben und Tod. In der Freierprobe als verbreitetem Märchenmotiv werden dem Helden von einer Prinzessin mehrere (meist drei) Rätselgestellt, manchmal auch im Gegenzug vom Helden der Prinzessin.

Beispiele für das Motiv des Rätsellösens in Opern und Schauspielen: Pucchini „Turandot“, Orff „Die Kluge“, Wagner „Lohengrin“- „Nie sollst Du mich befragen“ (nämlich nach Namen und Herkunft). Wagner „Parzifal“ (Wunde des Amphortas), Shakespeare „Der Kaufmann von Venedig“. Anlass für vielfältige Deutungen hat auch das „Hexen-Einmaleins“ in Goethes Faust gegeben. Im 19. Jahrh. sind Frage- und Antwortspiele zur Belehrung und Unterhaltung und als unterschiedliche Gesellschaftsspiele (Kreuzwortsrätsel) in Mode gekommen, die im 20. Jahrh. mithilfe der Massenmedien zum Wissens-„Quiz“ wurden (Quiz von „Prüfung, Test“)

Rätsel fordern unsere Orientierungs-Funktionen, unsere Kombinationsgabe, unser symbolisches Verständnis und unsere Lebenserfahrung heraus. Über die reine Wissenabfrage hinaus ist es oft ein bewusstes Verwirrspiel, dessen Sprache mit Bedeutungen, mit Logik spielt und eine andere, häufig polare Sichtweise ermöglicht. (Trickster, Narr, Clown)

Die tiefste Ebene des Rätselratens findet sich in der Frage des Menschen nach sich selbst und dem Sinn seiner Existenz (Sphinx). Hier kann das Rätselraten als Aufgabe der Individuation verstanden werden, der Entwicklung und Differenzierung des Bewusstseins aus dem Unbewussten, der Verwirklichung seines individuellen Schicksals und dem Prozess der Selbstfindung. Das Rätsel steht für das Geheimnis der Schöpfung und aller existentiellen Fragen des Lebens und des Todes, der Beziehung zwischen Frau und Mann (Eros-Prinzip) und der Kreativität.

Literatur: Standard

Autor: Kuptz-Klimpel, Annette