Vergewaltigung

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Keyword: Vergewaltigung

Links: Heros-Prinzip, Inzest, Männlichkeit, Sexualität, Weiblichkeit

Definition: Vergewaltigung (lat. rapere, fortreissen, engl. rape) ist ein traumatisches Ereignis, das einen Einbruch in die Lebenskontinuität bedeutet, einen Angriff auf das intimste Selbst. Ein häufiges Verbrechen, das als Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung gewertet wird. Vergewaltigen bedeutet erzwungenen Geschlechtsverkehr, ein Gewaltakt, der mit sexuellen Mitteln durchgeführt wird, zu verstehen als sexueller Ausdruck von Aggression.

Information: Primäres Ziel ist die Unterwerfung des Opfers, das Aufzwingen des eigenen Willens, die Demütigung und Erniedrigung. Vergewaltigung ist gleichsam die 3. Säule der patriarchalen Herrschaft. Das Machtinstrument der sexuellen Vergewaltigung gilt gegenüber den Frauen des Feindes ebenso wie gegenüber den eigenen Frauen. Die Helden von Troja vergewaltigten die Frauen ihrer Feinde und die Priesterinnen und die Römer die geraubten Sabinerinnen. Sklaven und Sklavinnen wurden vergewaltigt. Vergewaltigung gehört in den Machtkontext von Sexismus und Rassismus. Vergewaltigung begegnet uns als Kindsmissbrauch, als „date rape“ auf dem Universitätscampus, Vergewaltigung von Prostituierten in der Szene, als Vergewaltigung durch Polizisten und Gefängniswärter und als Vergewaltigung in der Ehe.

Bei indigenen Völkern ist die kollektive Vergewaltigung einer Frau ein offizielles Strafverfahren bei kultischen Übertretungen. Das moderne „Gangrape“ (Gruppenvergewaltigung) das Vergewaltigen einer Frau durch eine Bande von Männern ist von Margaret Mead und anderen Anthropologen bei den verschiedensten Völkern (Indianer in USA, Mundugumor in Neu Guinea) untersucht worden. In Gesellschaften, in denen die Große Göttin verehrt wird, gibt es fast keine Vergewaltigungen. Bei den matriarchalischen Semai ist Vergewaltigung unbekannt. Vergewaltigung ist ein bedeutsames Motiv in patriarchalen Mythologemen und eng verknüpft mit dem Mythos von Reinheit und Jungfräulichkeit. Die griechische Mythologie ist besonders reich an Vergewaltigungsmotiven, Hades raubt Persephone, Apollon die Nymphen, Kastor und Pollux entführen die Töchter des Leukippos. Die euphemistische Beschreibung als „Raub“ verdeckt, dass es sich um Vergewaltigung handelt. Neben Poseidon, Pan und vielen anderen trickreichen mythologischen Göttern ist Zeus der größte Verfolgende und Vergewaltigende, verwandelt sich oft in Tiere (als Schwan) oder Naturerscheinungen (Blitz), um zu überwältigen und an das Ziel seiner Wünsche zu kommen. Opfer der Vergewaltigung griechischer Götter waren Göttinnen und Sterbliche, Hera, Io, Europa, Cassandra, Leda, Philomela. Robert Graves sieht in der Vergewaltigungspraxis des griechischen Olymp den Triumph der Griechen über die Tempel der Göttinnen, ein Ausdruck der Überwindung des Göttinnenkultes durch das Patriarchat.

Die Bibel ist eine Fundgrube für das Vergewaltigungsmotiv, Konkubinen, Töchter und Schwestern (Tamar) werden vergewaltigt (Buch der Richter, Samuel). Im Deuteronomischen Gesetz heißt es, dass eine verlobte Jungfrau, die bei der Vergewaltigung nicht geschrien habe, zu steinigen sei. Die Märtyrerlegenden lehren, dass es besser ist zu sterben, wenn Vergewaltigung droht, um die Keuschheit zu retten. (Maria Goretti)

Die Römer und Sachsen bestraften Vergewaltiger mit dem Tode, die Normannen schnitten dem Vergewaltiger die Hoden ab und stachen ihm die Augen aus. Erst das christliche Recht sprach der Ehefrau das Recht ab, den Geschlechtsverkehr zu verweigern und förderte damit die Vergewaltigung in der Ehe, die heute (seit 1997) Strafrechtsbestand ist. In den Märchen ist das Vergewaltigungsmotiv oder der sexuelle Missbrauch durch die Überarbeitung der Brüder Grimm „geschönt“ und symbolisch verdeckt worden. Rotkäppchen kann als Parabel für Vergewaltigung, für das Mädchen als Opfer und der Wolf mit den großen Händen und dem großen Mund und den großen Augen, die fressen wollen, als Symbol für das vergewaltigende Männliche betrachtet werden. Das Mädchen ohne Hände flüchtet in anderen Fassungen vor dem Vater, der ihr Gewalt antun will, und sie dann nur mit einem Hemd bekleidet in den Wald fortjagt.

In der Literatur findet sich oft das Motiv der Vergewaltigung in Ohnmacht und Schlaf, z. B. Kleist: Die Marquise von O. In modernen südafrikanischen Romanen wird die Vergewaltigung weniger als traumatische Erfahrung für die Opfer thematisiert, sondern als Symbolik der Rassenspannungen und nationalen Identität. (Maimanes: “Hate no more“ 2000, Farida Karodias “Other Secrets“ 2000) Als Euphemismus für Vergewaltigung erscheint hier die Metapher von „Liebe im Kriegsrecht“. Zentrales Motiv in Filmen, z. B. Jack the Ripper, „A Clockwork Orange“ (Stanley Kubrick), Frenzy (Hitchcock), Going Home (Robert Mitchum), „Deliverance“ nach dem Roman von Jack Dickey, „Rashomon“ (Kurosawa).

In der modernen Partyszene gilt „Liquid Ecstasy“ (GHB) als Vergewaltigungsdroge, die einem Drink beigemischt wird und für Stunden zum Gedächtnisverlust führt, sodass die vergewaltigten jungen Frauen beim Aufwachen eine Amnesie für die Vergewaltigungstat haben.

Vergewaltigung als Kriegsverbrechen und Mittel der Folter hat neu auch Eingang ins Völkerrecht (relevant auch für Asylanträge) gefunden, nachdem die brutalen Massenvergewaltigungen in Ex-Jugoslawien öffentlich geworden sind und ein kollektives Aufdecken sexueller Gewalt in den Armeen begonnen hat. Bekannt wurde das sexuelle Versklavungssystem des japanischen Militärs, das Schicksal der koreanischen „Trostfrauen“, die Vergewaltigungspraxis marokkanischer Söldnergruppen und die Massenvergewaltigungen von Frauen durch die Rote Armee im Berliner Raum.

Die Legitimierung von Vergewaltigung als heroischer Akt des In-Besitznehmens hat Tradition von Dschingis Khan in der Mongolei bis zu den Massenvergewaltigungen in Exjugoslawien, die als militärische Strategie entlarvt worden sind, die gegnerische Kultur zu zerstören. (im Bürgerkrieg von Bangladesch 1971 / 72 wurden ca. 200. 000 Frauen vergewaltigt).

Der Akt der Vergewaltigung hat Kontrollcharakter, als Versuch die weibliche Potenz der Lebenskraft zu überwinden und zu vereinnahmen.

Der irakische Angriff auf Kuwait wurde als „rape of Kuwait“ bezeichnet, was den engen Zusammenhang von Gewalt und Sexualität sichtbar macht. Im Kontext von Gefangenschaft und Folter werden auch Männer vergewaltigt, um Macht zu demonstrieren und zu erniedrigen.

Der gesellschaftliche Kontext hat Vergewaltigungsmythen produziert, z. B. alle Frauen wollen heimlich vergewaltigt werden, keine Frau kann gegen ihren Willen vergewaltigt werden; das sind täterentlastende und opferfeindliche Fehlkonstrukte, mit denen Vergewaltigungsopfern eine Schuld an der Vergewaltigung zugeschrieben wird, ein geheimes Einverständnis, wenn Opfer sich nicht gewehrt haben, eine Verharmlosung der Gewalt gegen Frauen, vgl. Sprachformen wie „vergewohltätigen“.

Interpretation: Vergewaltigung hat viele Funktionen: in Besitznahme von Eigentum, Eroberung und Raub der Frau, Beweis der eigenen Männlichkeit, Machtdemonstration, heroischer Akt, Rache an anderen Männern, sozialer Kontrollmechanismus, Genozid bis hin zu Spannungsabfuhr und Zeitvertreib. Vergewaltigung führt bei den Opfern oft zu einem psychischen Ausnahmezustand und dem Vergewaltigungssyndrom, das im Kontext einer posttraumatischen Störung zu begreifen ist, mit starken Beeinträchtigungen des Lebensvollzugs.

Psychologisch gesehen hat Vergewaltigung nichts mit Trieb und Potenz zu tun, sondern mit der archetypischen männlichen Angst vor dem Weiblichen, mit dem Versuch der Bannung der numinosen Faszination des weiblichen Geschlechts, auch als Initiationsritus kann Vergewaltigung dienen. Der Akt der Vergewaltigung hat Kontrollcharakter und entspringt dem Wunsch, sich aus der Angst oder Umklammerung vom Weiblichen gewaltsam zu lösen. Vergewaltiger haben ein brüchiges Ich, sind oft ambivalent an die Mutter gebunden, sehr dem Unbewussten verhaftet und identifiziert mit dem Archetyp des schrecklichen Männlichen. (Charles Manson, Jack the Ripper). Projiziert wird auf die Frau die Anima als das Ersehnte, Begehrte und gleichzeitig Gefürchtete, Verachtete, als Madonna und Hure. Besitzen und Zerstören wollen werden eins. Vergewaltigung und Vergewaltigungsfantasien können auch als Triebfedern im Kontext des Individuationsgeschehens betrachtet werden, als dynamischer Prozess einer zutiefst instinktiven, undifferenzierten Triebkraft, die transformiert werden will, aber ausagiert wird und damit nicht zu einem Bewusstseinserweiterungsprozess oder Integration führt.

In den Träumen kann die Vergewaltigung sich auch als Angst vor der noch angstvoll erlebten Männlichkeit, die nur in ihrem Gewaltaspekt, als tierisch erfahren und vorgestellt werden kann (Schneeweisschen und Rosenrot), oder als angstbesetzter, abgewehrter eigener Triebwunsch manifestieren. Die Träume sind oft mit Todesangst verbunden, Gefühlen von Ohnmacht und Bewegungslosigkeit. Als massive Bedrohung seelischer und körperlicher Integrität können diese Träume aber auch auf real stattgefundene sexuelle Grenzüberschreitungen verweisen. Gearbeitet wird im therapeutischen Prozess an Rückgewinnung von Kontrolle und Stabilität, Aufheben der Dissoziation und Realitätsüberprüfung. Schlafstörungen, Selbstentwertung, Angst, Waschzwang und phobisches Vermeiden beherrschen oft den Alltag vergewaltigter Frauen. Ressourcenorientiertes therapeutisches Arbeiten nach traumatherapeutischen Gesichtspunkten (Phasenmodell) ist indiziert.

Literatur: Standard; Brownmiller, 1978; Feldmann, 1992; Wirtz, 1993

Autor: Wirtz, Ursula