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'''Keyword:''' Abschneiden
'''Keyword:''' Abstieg


'''Links:''' [[Abschied]], [[Ende]], [[Kastration]], [[Messer]], [[Operation]], [[Schneiden]], [[Schwert]], [[Trennung]]
'''Links:''' [[Abgrund]], [[Absturz]], [[Aufstieg]], [[Nachtmeerfahrt]], [[Held]], [[Heros-Prinzip]], [[Jenseits]], [[Regression]], [[Unbewusstes]], [[Unten]]


'''Definition:''' Das Abtrennen von ursprünglich Verbundenem, einen Teil von einem Ganzen abtrennen.
'''Definition:''' Heruntersteigen von einem erhöhten Aufenthaltsort.


'''Information:''' Keine
'''Information:''' Das Motiv des Abstiegs findet sich als Höllen- und Unterweltfahrt zeit- und kulturübergreifend. Der Abstieg in die unteren Bereiche des Seelischen ist in den Mythen den Heroen, Religionsstiftern, Kulturbringern, Priestern, Schamanen, Künstlern, schöpferischen Menschen vorbehalten. Die in diesen Symbolbereich gehörende [[Nachtmeerfahrt]] ist zentrales Urbild für den therapeutischen Prozess und die [[Individuation]]. Abstieg und [[Aufstieg]], [[Introversion]] und [[Extraversion]], [[Regression]] und [[Progression]] sind zwei Seiten des rhythmisch-zirkulären Lebensprozesses, die sich gegenseitig fordern und bedingen. Dies ist auch eine typische Dynamik aller schöpferischen Prozesse.


'''Interpretation:''' Abschneiden kann symbolisch genauso wie im konkreten Leben ein destruktiv-zerstörerischer wie hilfreicher, reinigender und differenzierender Akt sein. Abgeschnittene Blumen welken und sterben, weil sie, vom restlichen Organismus abgetrennt, nicht existieren können. Heftige und überfordernde Trennungsprozesse können als ein Abgeschnittensein von den Wurzeln oder der Lebensader erlebt und dargestellt werden. Seit der Französischen Revolution werden alte Zöpfe abgeschnitten, um mit veralteten Traditionen, Normen und Vorstellungen radikal zu brechen. Jemandem das Wort abzuschneiden, ist eine Geste der Macht; den Weg oder Rückzug abzuschneiden, ist eine aggressive, gefangensetzende, oft vernichtende Kampfstrategie.
'''Interpretation:''' Abstieg ist in unserer abendländisch-christlichen Kultur und Gesellschaft mit der überwiegend positiv besetzten Bewertung des Oberen vorwiegend mit negativen Qualitäten und Eigenschaften versehen. Das Untere, als die [[Erde]], die Natur, der Körper, die Materie, das Dunkle, das [[Unbewusste]], das Vieldeutige, das [[Chaos]], der Trieb- und Instinktbereich, wird zum Schlechten und Bösen, zum Triebhaften und Sündigen. Das spiegelt sich in unserer Sprache: Ein "Absteiger" zu sein bedeutet, im Ansehen seiner Umwelt zu sinken. Wir werden "heruntergemacht" oder lassen uns "unterkriegen" oder sind "untendurch". Sich schlecht fühlen, heißt "down" oder gar "ganz unten" sein, einen "Tiefpunkt" haben.


In der Amputation (lat. amb: herum, ringsherum; lat. putare: schneiden, reinigen, ordnen, berechnen, auch vermuten) als fachgerechtem operativem Abschneiden oder Abtrennen eines Körperteils zeigt sich die Ambivalenz des Abschneidens beispielhaft: Sie ist mit Verlust verbunden und gleichzeitig notwendige lebenserhaltende Maßnahme.
In der Psychotherapie besteht häufig zunächst eine große Angst vor dem Abstieg in die Tiefen der eigenen unbewussten Persönlichkeit: Dort unten stößt man auch auf das Dunkle, den [[Schatten]], das Menschlich-Allzumenschliche, die Trieb- und Instinktseiten der eigenen Natur. Dort droht nicht nur eine Reduktion des Selbstbildes, sondern auch die Begegnung mit Angst auslösenden verdrängten Komplexen und anderen autonomen Inhalten der Psyche. Es drohen Schmerzen und Leiden, die Erfahrung eigener Sinnlosigkeit und Leere, infantile Abhängigkeit und Hilflosigkeit und nicht zuletzt auch die Gefahr der Auflösung der Persönlichkeit. Eine Klientin hat dies auf eine entsprechende Frage hin geradezu klassisch ausgedrückt: "Ich habe Angst, dass dann der ganze Schmutz und Dreck, das Böse und Schlechte von mir raufkommen."


Der negativ-bedrohliche Aspekt des Abschneidens ist die Kastration (lat. castrare: verschneiden, entmannen), die meist ein Verlust ohne Gewinn ist. In der Psychoanalyse wird der Kastrationskomplex (Ödipuskomplex) als zentrales psychisch wirksames Geschehen beschrieben: Jungen fürchten, der Vater könne ihnen zur Strafe, weil sie die Mutter lieben, den Penis abschneiden oder ihr Penis sei im Vergleich zu dem anderer zu klein; Mädchen glauben in der Vorstellung Freuds, sie seien kastrierte Mängelwesen, woraus der Penisneid des Mädchens resultiere.
"Durch den Abstieg ins Unbewußte bringt das Bewußtsein sich in eine gefährliche Lage; denn es scheint, als ob es sich selbst auslöschte. Es ist die Situation des primitiven Helden, der vom Drachen gefressen wird. Da es sich um eine Minderung oder Auslöschung des Bewußtseins handelt und ein solches "abaissement du niveau mental" jenes "peril of the soul" ist, vor welchem der Primitive die allergrößte Angst empfindet (nämlich die Geisterfurcht), ist die absichtliche oder gar mutwillige Auslösung dieses Zustandes ein Sakrileg oder Bruch des Tabus, worauf die schwersten Strafen stehen." (Jung GW 9, §437)


Das Abschneiden der Daumen wurde in der "schwarzen Pädagogik" als Strafe für Daumenlutschen angedroht und im Bilderbuch Struwwelpeter eindrucksvoll dargestellt. In diesem Fall ist Abschneiden Strafe für Regressionsneigung, orale Fixierung und oral-sexuellen Lustgewinn. Auch die tadelnde Aufforderung, man solle sich eine Scheibe von jemandem abschneiden, also sich ein Beispiel an ihm nehmen, kann Kastrations- und Verlustängste auslösen. Fantasien und Träume, in denen ein Körperteil abgeschnitten oder amputiert wird, weisen auf Verlust, seelische Verletzung, narzisstische Wunde. Sie können auch auf das Ende oder die Trennung von etwas oder jemandem weisen.
Aus diesen Gründen ist der Abstieg in die unteren Bereiche des Seelischen immer schon den besonders dafür Ausgezeichneten vorbehalten geblieben: den Heroen, Religionsstiftern, Kulturbringern, den Priestern, Medizinmännern und Schamanen, den Künstlern, schöpferischen Menschen und denen, die aus Not dazu wurden.


Die Moiren spinnen den Lebensfaden, teilen ihn zu und schneiden ihn ab und das Leben – wie überhaupt komplexere Vorgänge – können in Abschnitte eingeteilt und dadurch übersichtlicher und leichter verstehbar werden.  
Das Motiv des Abstiegs findet sich seit frühesten Zeiten bis heute über die ganze Erde verbreitet, zum Beispiel im ägyptischen Totenbuch, in der Höllenfahrt der babylonischen Fruchtbarkeitsgöttin Ischtar, im Gilgamesch-Epos, im Osiris-Mythos, bei vielen Göttern und Helden der griechischen Mythologie (Attis, Adonis, Herakles, Theseus, Orpheus, Dionysos, Odysseus, Persephone), im Amor und Psyche-Märchen, in der Höllenfahrt Christi.
 
Die literarische Krönung dieser Motiv-Gattung ist Dantes "Göttliche Komödie". In Goethes "Faust" steigt Faust ins Reich der Mütter hinab, um Helena zu den Lebenden zurückzubringen. Schließlich findet sich dies Motiv in zahllosen Märchen, z. B. Frau Holle oder in in der "Unendlichen Geschichte" von M. Ende, in der der Held Bastian am Schluss in das Bergwerk der Bilder hinuntergehen muss, um den Zugang zur Quelle des Lebens zu finden.
 
In den Mythologien und Märchen sind die Gründe für den meist nur aus tiefer Not heraus begangenen gefährlichen Abstieg in die andere Welt (Unterwelt, Jenseits, Geisterwelt) vielfältig. Es sollen Erkenntnisse erworben werden über das Leben nach dem Tod und die Weiterexistenz der Seele, die Mächte der Finsternis sollen überwunden, verdammte und verlorene Seelen befreit und erlöst werden. Man sucht einen Blick in Zukunft oder Vergangenheit zu werfen und die Ursachen von geister- und dämonenbewirkten Erkrankungen und Seelenverlusten herauszufinden. Der Tod soll überwunden, das Leben erneuert und die "schwer erreichbare Kostbarkeit" gefunden werden. Auf dieser Unterweltreise kann aber auch ein ersehnter Schatz (eine neues Bewusstsein, eine erweiterte Identität) gewonnen, an diesem Tiefpunkt kann der Umschwung einsetzen, Tiefe wird positiv (etwas vertiefen, tiefgründig, tiefsinnig etc.) und schöpferisch. Das Vertrauen in einen solchen regressiven Prozess und das wiederholte Erleben des "Stirb' und Werde" kann der Persönlichkeit eine tiefere Identität und ein tieferes Selbstgefühl ([[Selbst]]) vermitteln.
 
Der Archetyp der Nachtmeerfahrt, der Nekyia, ist somit in der Analytischen Psychologie im Hinblick auf den therapeutischen Prozess eines der zentralen Urbilder. Es bezieht sich auf die Psychodynamik der Introversion und der Regression in das eigene Unbewusste mit dem Ziel der Erweiterung und Differenzierung der Persönlichkeit.


'''Literatur:''' Standard
'''Literatur:''' Standard


'''Autor:''' Müller, Anette
'''Autor:''' Müller, Lutz

Version vom 18. Juli 2015, 09:42 Uhr

Keyword: Abstieg

Links: Abgrund, Absturz, Aufstieg, Nachtmeerfahrt, Held, Heros-Prinzip, Jenseits, Regression, Unbewusstes, Unten

Definition: Heruntersteigen von einem erhöhten Aufenthaltsort.

Information: Das Motiv des Abstiegs findet sich als Höllen- und Unterweltfahrt zeit- und kulturübergreifend. Der Abstieg in die unteren Bereiche des Seelischen ist in den Mythen den Heroen, Religionsstiftern, Kulturbringern, Priestern, Schamanen, Künstlern, schöpferischen Menschen vorbehalten. Die in diesen Symbolbereich gehörende Nachtmeerfahrt ist zentrales Urbild für den therapeutischen Prozess und die Individuation. Abstieg und Aufstieg, Introversion und Extraversion, Regression und Progression sind zwei Seiten des rhythmisch-zirkulären Lebensprozesses, die sich gegenseitig fordern und bedingen. Dies ist auch eine typische Dynamik aller schöpferischen Prozesse.

Interpretation: Abstieg ist in unserer abendländisch-christlichen Kultur und Gesellschaft mit der überwiegend positiv besetzten Bewertung des Oberen vorwiegend mit negativen Qualitäten und Eigenschaften versehen. Das Untere, als die Erde, die Natur, der Körper, die Materie, das Dunkle, das Unbewusste, das Vieldeutige, das Chaos, der Trieb- und Instinktbereich, wird zum Schlechten und Bösen, zum Triebhaften und Sündigen. Das spiegelt sich in unserer Sprache: Ein "Absteiger" zu sein bedeutet, im Ansehen seiner Umwelt zu sinken. Wir werden "heruntergemacht" oder lassen uns "unterkriegen" oder sind "untendurch". Sich schlecht fühlen, heißt "down" oder gar "ganz unten" sein, einen "Tiefpunkt" haben.

In der Psychotherapie besteht häufig zunächst eine große Angst vor dem Abstieg in die Tiefen der eigenen unbewussten Persönlichkeit: Dort unten stößt man auch auf das Dunkle, den Schatten, das Menschlich-Allzumenschliche, die Trieb- und Instinktseiten der eigenen Natur. Dort droht nicht nur eine Reduktion des Selbstbildes, sondern auch die Begegnung mit Angst auslösenden verdrängten Komplexen und anderen autonomen Inhalten der Psyche. Es drohen Schmerzen und Leiden, die Erfahrung eigener Sinnlosigkeit und Leere, infantile Abhängigkeit und Hilflosigkeit und nicht zuletzt auch die Gefahr der Auflösung der Persönlichkeit. Eine Klientin hat dies auf eine entsprechende Frage hin geradezu klassisch ausgedrückt: "Ich habe Angst, dass dann der ganze Schmutz und Dreck, das Böse und Schlechte von mir raufkommen."

"Durch den Abstieg ins Unbewußte bringt das Bewußtsein sich in eine gefährliche Lage; denn es scheint, als ob es sich selbst auslöschte. Es ist die Situation des primitiven Helden, der vom Drachen gefressen wird. Da es sich um eine Minderung oder Auslöschung des Bewußtseins handelt und ein solches "abaissement du niveau mental" jenes "peril of the soul" ist, vor welchem der Primitive die allergrößte Angst empfindet (nämlich die Geisterfurcht), ist die absichtliche oder gar mutwillige Auslösung dieses Zustandes ein Sakrileg oder Bruch des Tabus, worauf die schwersten Strafen stehen." (Jung GW 9, §437)

Aus diesen Gründen ist der Abstieg in die unteren Bereiche des Seelischen immer schon den besonders dafür Ausgezeichneten vorbehalten geblieben: den Heroen, Religionsstiftern, Kulturbringern, den Priestern, Medizinmännern und Schamanen, den Künstlern, schöpferischen Menschen und denen, die aus Not dazu wurden.

Das Motiv des Abstiegs findet sich seit frühesten Zeiten bis heute über die ganze Erde verbreitet, zum Beispiel im ägyptischen Totenbuch, in der Höllenfahrt der babylonischen Fruchtbarkeitsgöttin Ischtar, im Gilgamesch-Epos, im Osiris-Mythos, bei vielen Göttern und Helden der griechischen Mythologie (Attis, Adonis, Herakles, Theseus, Orpheus, Dionysos, Odysseus, Persephone), im Amor und Psyche-Märchen, in der Höllenfahrt Christi.

Die literarische Krönung dieser Motiv-Gattung ist Dantes "Göttliche Komödie". In Goethes "Faust" steigt Faust ins Reich der Mütter hinab, um Helena zu den Lebenden zurückzubringen. Schließlich findet sich dies Motiv in zahllosen Märchen, z. B. Frau Holle oder in in der "Unendlichen Geschichte" von M. Ende, in der der Held Bastian am Schluss in das Bergwerk der Bilder hinuntergehen muss, um den Zugang zur Quelle des Lebens zu finden.

In den Mythologien und Märchen sind die Gründe für den meist nur aus tiefer Not heraus begangenen gefährlichen Abstieg in die andere Welt (Unterwelt, Jenseits, Geisterwelt) vielfältig. Es sollen Erkenntnisse erworben werden über das Leben nach dem Tod und die Weiterexistenz der Seele, die Mächte der Finsternis sollen überwunden, verdammte und verlorene Seelen befreit und erlöst werden. Man sucht einen Blick in Zukunft oder Vergangenheit zu werfen und die Ursachen von geister- und dämonenbewirkten Erkrankungen und Seelenverlusten herauszufinden. Der Tod soll überwunden, das Leben erneuert und die "schwer erreichbare Kostbarkeit" gefunden werden. Auf dieser Unterweltreise kann aber auch ein ersehnter Schatz (eine neues Bewusstsein, eine erweiterte Identität) gewonnen, an diesem Tiefpunkt kann der Umschwung einsetzen, Tiefe wird positiv (etwas vertiefen, tiefgründig, tiefsinnig etc.) und schöpferisch. Das Vertrauen in einen solchen regressiven Prozess und das wiederholte Erleben des "Stirb' und Werde" kann der Persönlichkeit eine tiefere Identität und ein tieferes Selbstgefühl (Selbst) vermitteln.

Der Archetyp der Nachtmeerfahrt, der Nekyia, ist somit in der Analytischen Psychologie im Hinblick auf den therapeutischen Prozess eines der zentralen Urbilder. Es bezieht sich auf die Psychodynamik der Introversion und der Regression in das eigene Unbewusste mit dem Ziel der Erweiterung und Differenzierung der Persönlichkeit.

Literatur: Standard

Autor: Müller, Lutz