Muse

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Keyword: Muse

Links: Anima, Animus, Eros-Prinzip, Kreativität

Definition: Eine Muse (lat. musa, griech. mousa= [Beschäftigung mit der] Kunst; Muse) ist in der griechischen Mythologie eine der neun Töchter des Zeus und der Mnemosyne, der Schwestern im Gefolge des Apoll als Schutzgöttinnen der Künste: Klio: Geschichte; Kalliope: Epos, Elegie; Melpomene: Tragödie; Thalia: Komödie; Urania: Astronomie; Erato: Liebeslied, Tanz; Euterpe: Musik, Lyrik; Terpsichore: Chorische Lyrik, Tanz; Polyhymnia: Tanz, Pantomime, ernstes Lied.

Information: Die antiken Dichter glaubten, dass sie von den Musen inspiriert und zur Dichtkunst berufen werden. Es ist ihnen aufgetragen, Vermittler göttlichen, zeitlosen Wissens zu sein. Ein berühmter Zeuge eines Berufungserlebnisses ist Hesiod, der um 700 vor Christus über die Götterentstehung (Theogonie) berichtete und mit den Worten beginnt: "Die Musen lehreten einst Hesiod den schönen Gesang". (Koller, 1963, S. 28). Auch Homer ruft am Anfang seiner Epen, z. B. der Odyssee, die Musen an: "Nenne mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes …"

Die Musen haben also eine inspirierende Wirkung, sie verleihen den "enthusiasmos", einen Zustand, in dem ein Gott im Menschen spricht (abgeleitet von "entheos", was "Gott im Innern" bedeutet). In einem solchen Zustand ist es die Muse selbst, die im Dichter singt, letzterer wird zu ihrem Instrument. Da der Dichter-Sänger seine ihm einfließende Inspiration an ein jeweiliges Publikum weitergibt, wird er gleichsam zum Instrument der Musen und gibt ihren Versen und Klängen allgemeine Bedeutung.

In der Mythologie gibt es verschiedene Versionen zur Abstammung der Musen. Die bekannteste ist wohl die, dass sie aus der Vereinigung von Zeus und Mnemosyne (Erinnerung) hervorgegangen sind. Mnemosyne ihrerseits war in mythischer Vorstellung eine Quelle, entsprungen der zeugenden Vereinigung der Ureltern Uranos und Gaia (d. h. Himmel und Erde). Somit ist die Deutung naheliegend, dass die Musen mit der göttlichen Quelle der Erinnerung an das Urschöpferische in Verbindung stehen. Sie haben deshalb Wissen um letzte und tiefste Geheimnisse, werden also sehr zurecht die "sich Erinnernden", aber auch die "Sinnenden genannt". In späteren Versionen gelten sie auch als Töchter der "Harmonia", was "die Vereinigende" bedeutet, und als segenspendend und staatserhaltend aufgefasst wurde. Harmonia wiederum war die Tochter der Liebesgöttin Aphrodite (Venus) und des Kriegsgottes Ares (Mars). Sie vereinigt in sich sowohl Liebe als auch Konflikt und Hass, Konsonanz und Dissonanz.

In einem dem Pindar zugeschriebenen Hymnus finden wir eine Erzählung, die Aufschluss darüber gibt, worin eigentlich die Aufgabe der Musen besteht und welche Bedeutung sie in der Schöpfung haben: Nachdem Zeus alle Menschen und Dinge erschaffen hatte, feierte er seine Hochzeit und fragte die olympischen Götter, ob sie sein Werk als vollständig erachteten, oder noch etwas vermissten. Darauf baten sie ihn, noch Wesen zu erschaffen, die seine Schöpfung mit Worten und Klängen lobpreisen würden. (Kerenyi, 1966, S. 83) Anscheinend ist die blosse Existenz der Schöpfung nicht befriedigend, sie benötigt zu ihrer Vollendung auch des Widerhalls und der "re-flexio". Damit ist etwas zur Bedeutung der Musenkunst für die Menschheit ausgesagt. Als göttliche Wesen besitzen die Musen die Gabe, das Erschaffene widerzuspiegeln, ihm Ausdruck zu geben, und es eignet ihnen "Wissen" über die Geheimnisse des Vergangenen und der Zukunft. Indem sie einem menschlichen Sänger-Poeten Anteil an dieser göttlichen Gabe vermitteln, soll sein Gesang von göttlichem Wesen erfüllt sein. So schaffen sie eine Beziehung zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Bereich.

Welche Rolle spielt die Muse für unsere Gegenwart? Ist sie ein Phänomen, das einer historischen Periode im antiken Griechenland angehört, das heute nur noch gelehrte Altphilologen interessiert? Oder ist sie in überzeitlicher Weise lebendig, ein Symbol "musi"-kalischer oder poetischer Eingebung? Unsere Sprache verrät, dass die Muse seit der Antike weite Verbreitung in der abendländischen Vorstellung gewann, besonders im deutschen Sprachbereich.

Wir sprechen vom "musischen" Menschen, vom Museum, dem Musensohn, Musentempel etc. Sicherlich gruppieren sich all diese Vorstellungen vornehmlich um Musik, wie wir sie verstehen. Unser diesbezüglicher Begriff ist aber sehr begrenzt im Vergleich zur Bedeutung, welche die "Musenkunst" (musike techne) im alten Griechenland hatte, Ursprünglich war sie so eng mit Tanz, Religion, Moral und Erziehung verknüpft, dass ihr schon deshalb höchste Bedeutung und Verehrung zukam.

Was ist vom Standpunkt moderner Tiefenpsychologie zum Phänomen der Muse zu sagen? Sigmund Freud lag die Dichtung sehr am Herzen und er bemühte sich um eine psychologische Aufklärung schöpferischer Prozesse. Es wurde ihm aber bewusst, dass er mittels seiner psychoanalytischen Vorstellung von Triebsublimierung nicht weiter in das Geheimnis künstlerischer Inspiration einzudringen vermochte. Resigniert stellte er fest: "Leider muss die Analyse vor dem Problem des Dichters die Waffen strecken". (Freud 1928, S. 399).

C. G. Jung und die auf ihm gründende analytische Psychologie waren zur Überzeugung gekommen, die Mythen als Aussagen der Seele ernst zu nehmen und ein bestmögliches Verständnis ihrer symbolischen Ausdrucksweise zu erarbeiten. In dieser Sicht ist es naheliegend, die Muse als mythische Quelle der Inspiration zu sehen. Das heisst, sie ist eine Verkörperung innerer Erfahrungen, die die Analytische Psychologie mit dem Terminus Anima (Seele) bezeichnet hat. Es ist sprichwörtlich, dass ein Dichter oder Musiker in seinen schöpferischen Momenten "von der Muse geküsst" werde. Auch entspricht es einer weit verbreiteten Vorstellung, dass durch die Emotionen einer glücklichen oder meist unglücklichen Liebe der Zugang zu den schöpferischen Quellen geöffnet würde. Die "femme inspiratrice" vermittelt die Erfahrung der Muse, falls sie nicht selbst gleichsam als Muse empfunden wird.

Die "Anima" als inspirierende geliebte Frau oder als literarische Figur spielt in der Kulturgeschichte eine große Rolle. Man denke an Dantes Beatrice, Hölderlins Diotima, Beethovens ferne, unsterbliche Geliebte, aber auch an Alma Mahler, die im Laufe ihres Lebens vier genialen schöpferischen Menschen (Gustav Mahler, Franz Werfel, Walter Gropius und Oskar Kokoschka) zur Muse wurde. Hier sei auch ein Psychoanalytiker erwähnt, nämlich D. Winnicott, einer der kreativsten psychoanalytischen Pioniere. Er schrieb seiner zweiten Frau Clare: "Deine Wirkung auf mich besteht darin, mich lebendig und produktiv zu machen, und das ist eigentlich furchtbar - denn wenn ich von dir getrennt bin, fühle ich mich gelähmt, von jeglicher Tatkraft und Originalität abgeschnitten". (Kahr, 1996, S. 93).

Nach Ansicht einiger Autoren gehört die Anima-Erfahrung nicht nur zur Psychologie des Mannes. (Hillman 1973, Kast 1984). Sowohl Anima (Seele) als auch Animus (Geist) sind potente archetypische Wirkkräfte, die sich sowohl im Mann als auch in der Frau in vielfältigster Weise ausdrücken wollen.

Die Götter in Pindars Hymne haben recht: Wir benötigen die Musen, denn es ist ein fundamentales menschliches Anliegen, unserem Staunen über das So-Sein unserer Lebenswelt – sowohl in ihrer Pracht als auch in ihrem Geheimnis und ihrer Schrecklichkeit – Ausdruck zu verleihen, vom Innenleben mit seinen Konflikten, Leiden und Freuden Mitteilung zu machen. Dies ist einigen schöpferischen Menschen auferlegt, oft stellvertretend für die vielen anderen, die nicht "sagen können, wie sie leiden", um mit Goethes "Tasso" zu sprechen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Musen Symbol eines tief menschliches Bedürfnisses sind, die Existenz als "beseelt" zu erleben – was mit "glücklich sein" natürlich nicht identisch ist. Aber wie undenkbar arm wäre unser Leben ohne den Klang und Gesang der Musen!

Literatur: Standard

Autor: Jacoby, Mario